Zeitzeuge - Ein Bericht von Edith Haase
1.
„Die holen wir nicht ab“
Eine Jüdin soll verhaftet werden.
Senni Katz traf ihren späteren Mann Adolf Blum in Hanau, als sie auf
dem Weg zum Arzt war. Es war das Jahr 1929: sie, eine 22-jährige
Verkäuferin in einer Frankfurter Metzgerei, Tochter einer jüdischen
Familie aus Langenselbold, er ein 23 Jahre alter Sohn einer streng
gläubigen Bergen-Enkheimer Methodistenfamilie, der als
Feinmechaniker arbeitete. Als Adolf Senni zum ersten Mal
begegnete, war ihm klar, dass er seine zukünftige Frau getroffen
hatte. Das junge Paar heiratete am 11. April 1933 standesamtlich. Es
war eine der letzten Eheschließungen eines jüdisch-christlichen
Paares, das die Nationalsozialisten noch zuließen.
Sie hatten nicht den Segen der Eltern, Sennis Eltern hatten bereits
einen jüdischen Bräutigam für ihre Tochter im Sinn, Adolf Blums
Familie hatte große Vorbehalte gegen die junge Jüdin. Senni war als
Verkäuferin in der koscheren Metzgerei in der Großen
Eschenheimer Straße 19 tätig und bediente auch in dem Lokal, das
zu dieser Metzgerei gehörte. Sie konnte von den Trinkgeldern, die
sie dabei bekam, ihre Aussteuer finanzieren.
Senni Katz (1. von rechts) vor der Metzgerei Salomon in der Großen
Eschenheimer Straße
Foto: Aus dem Privatbesitz der Tochter Erika Lux; sie hat dieses Foto und
auch alle anderen auf dieser Seite der Inititaive Stolpersteine zur
Veröffentlichung überlassen.
Im Jahr 1933 verlor er seine Arbeit als Feinmechaniker, sie ihre
Stelle als Verkäuferin. Der Boykottaufruf „Kauft nicht bei Juden“
datierte vom 1. April des gleichen Jahres. Es ist nicht
auszuschließen, dass Sennis Entlassung mit diesem Angriff der
Nazis auf das jüdische Geschäftsleben zusammenhing.
Adolf nutzte sein Talent und seine Vorliebe und verdiente den
Lebensunterhalt in dieser wirtschaftlich sehr angespannten Zeit mit
Landschaftsmalereien.
Wie stark sich die NS-Propaganda auch auf das familiäre
Zusammenleben auswirkte, zeigt eine Begebenheit, die Sennis und
Adolfs nach dem Krieg geborene Tochter, uns erzählt. Eine
Angehörige aus Adolfs Familie soll Senni während der NS-Zeit
hinterhergerufen haben:„Da läuft noch eine. Die haben sie wohl
vergessen.“ Ganz anders die Haltung von Nachbarn, Freunden
und Bekannten. So sollte es gegen Ende des Krieges zu der lange
hinausgeschobenen Verhaftung von Senni kommen. Der Polizist
Braun musste nun doch dem Befehl folgen, die junge Frau am 13.
Februar 1945 zu verhaften.
(Es gab bereits zu Beginn der 40er Jahre mehrere
Deportationswellen. Frankfurt galt sogar als eine der ersten Städte
des damaligen Deutschen Reiches, die sich stolz „judenrein“
nannten. Die Nazis konzentrierten sich erst gegen Ende des Krieges
auf die in Mischehe lebenden Jüdinnen und Juden und deren Kinder,
die sogenannten Geltungsjuden.)
Senni wurde gewarnt. Ein Parteimitglied soll noch gesagt haben:
„Die holenwir nicht ab.“ Es ist nicht bekannt, wie die Verhaftung so
lange verzögert werden konnte. Ein Nachbar aus der
Barbarossastraße, der Maurermeister Wilhelm Grimm, bot Senni
an, sie in seinem Keller zu verstecken. Der Zugang dazu lag in der
Küche und war durch einen Teppich kaschiert. Er ging davon aus,
dass man nicht wagen würde, das Haus eines angesehenen
Geschäftsmanns zu durchsuchen. Sie schlug das Angebot aus, weil
sie befürchtete, dass ihr Mann dann Repressalien ausgesetzt
werden könnte, damit er das Versteck preisgäbe. Adolf soll seiner
Frau zum Abschied gesagt haben: „Wir schauen jeden Abend zum
Himmel, suchen den größten Stern und grüßen uns, dann sind wir
uns nicht mehr so fern.“ Senni wurde am 13. Februar verhaftet und in
einem Lastwagen mit offener Ladefläche vor aller Augen zum
Frankfurter Ostbahnhof abtransportiert.
Dort traf sie in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs an dem
Versammlungsort an der Großmarkthalle ihre Schwester Rieckchen.
Die beiden müssen wohl die Nacht zum 14. in einem Raum im
Untergeschosss verbracht haben, in dem die Menschen
zusammengepfercht wurden, die dort auf ihre Verschleppung in die
Konzentrationslager warteten. Sie gelangten von einer Rampe aus
diesem Kellerraum direkt auf das Gleis zum Zug.
„Am 14. Februar 1945 wurde in Frankfurt ein Transport für den
Gestapobereich Frankfurt, Darmstadt und Koblenz
zusammengestellt. Betroffen waren die in Mischehe lebenden Juden
und Kinder aus diesen Ehen, die sogenannten Geltungsjuden.
Aus Frankfurt wurden 191 Personen deportiert: 159 Mischehepartner'
und 32 'Geltungsjuden' meist Kinder.“ (zitiert nach Monica Kingreen,
„Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt, Die Deportation der Juden in
den Jahren 1941-1945“, Campus-Verlag, S. 390).
Der Zug hielt während der Bombardierung Dresdens in der Nacht
vom 14. auf den 15. Februar auf einem Abstellgleis des Dresdner
Hauptbahnhofes. Die Insassen hatten schon die – leider vergebliche
- Hoffnung, dass ihnen die Weiterfahrt erspart bleiben würde.
Senni und ihre Schwester wurden nach Theresienstadt verschleppt.
Dort suchten sie vergeblich ihren Vater, der schon vorher dorthin
deportiert worden war.
Beide Ausweisdokumente stammen aus dem Jahr 1947.
Nach ihrer Befreiung konnten die beiden Schwestern auf
abenteuerliche Weise von Theresienstadt nach Hause
zurückkommen. Von einer einwöchigen Fahrt, zum Teil auf einem
Kohlewagen, ist die Rede. Ehemalige Nazis sollen unterwegs dazu
verpflichtet worden sein, ihnen Nahrung und Unterkunft zur
Verfügung zu stellen. Rieckchen suchte ihre drei Kinder, die sich
erfolgreich im Vogelsberg hatten verstecken können, und fand sie
dort.
Auch Adolf blieb die Deportation nicht erspart. Er musste in einem
Lager bei Quedlinburg Zwangsarbeit leisten und wurde im April 1945
von den Amerikanern befreit.
Senni hat Jahre später ihrer Tochter gegenüber die unglaubliche
Enge im Keller der Großmarkthalle erwähnt. Sie sprach nicht oft über
diese Erfahrungen, die sie jedoch nicht verdrängen konnte. Erika
erinnert sich noch, dass ihre Mutter im Februar, wenn sich der
Jahrestag ihrer Verschleppung näherte, häufig Herzprobleme bekam
und deswegen mitunter sogar in die Klinik eingewiesen werden
musste.
Das Paar baute 1950 ein Haus. Maurermeister Grimm, der schon
vor Sennis Verhaftung
seine Hilfe angeboten
hatte,unterstützte auch
nun die Blums und stellte
seine handwerklichen
Leistungen nicht in
Rechnung. Adolf
bezahlte ihn anfangs mit
Landschaftsbildern.
Das Geld war knapp.
Senni und Adolf Blum
hatten eine Hühnerzucht
angelegt und lebten vom
Verkauf der Eier, allerdings nicht an Nazis, die sich rasch als
Kundschaft einstellten, wie Erika erzählt.
Adolf und Senni Blum mit Tochter Erika vor dem eigenen Haus in den
50er Jahren
Nach 70 glücklichen Ehejahren feierte das Paar 2003 seine
Gnadenhochzeit.
Wie sehr auch Adolf bis kurz vor seinem Tod die Ereignisse um die
Ver-haftung seiner Frau verfolgten, zeigte sich an einer Reaktion
am Ende seines Lebens. Er war operiert worden und aus der
Narkose erwacht, als er unbedingt sein Krankenhausbett verlassen
wollte, um sich beim Fuhrunternehmer Wilhelm Häuser für die
Cervelatwurst zu bedanken, die er ihnen am Abend vor Sennis
Verhaftung noch vorbeigebracht hatte.
Auch die Tochter hat mitunter Anwandlungen von Traurigkeit.
Es ist bekannt, dass Kinder, deren Eltern und Großeltern die
Bedrohung durch die Massenvernichtung überlebt haben, lebenslang
im Unterbewusstsein diesen unbewältigten Ängsten ausgeliefert
sind.
Die düsteren Schatten dieser Zeit sind also noch immer nicht
endgültig vorüber und holen auch heute noch Menschen ein.
Quelle: Edith Haase: Lichter in einer dunklen Zeit, Beitag über Senny Blum -
autorisiert von Erika Lux - Text für die Lesung am 11.11. verfasst am 3.9.2018
> Weiterlesen:
2. Mutiges Einschreiten der Familien R. und H. gegen
SA-Ausschreitungen bei den Novemberpogromen
3. August Schneider erzählt uns aus seiner Kindheit .
Es gab aber auch Lichter in einer
dunklen Zeit
Diese Lichter zeugen von Menschlichkeit
inmitten einer unfassbaren Barbarei. Es
sind Berger Bürger, die den Mut hatten,
gegen den Strom zu schwimmen, ihre
jüdischen Mitbürger nicht im Stich zu lassen
und im Verborgenen Nachbarschaftshilfe
zu leisten.
Quelle: https://www.spreadshirt.de/shop/design/,
bearbeitet von Ewald Wirth
Einige Beispiele:
•
Der Maurermeister Wilhelm Grimm
aus der Barbarossastraße bot seiner
Nachbarin, der Jüdin Senni Katz, seinen
Keller als Versteck an.
•
Die Familien R. und H. setzten sich bei
den Novemberpogromen für ihre
jüdischen Nachbarn ein.
•
Familie Schneider: Großvater und
Vater halfen Verfolgten und
Gedemütigten in der Pogromnacht.
•
Polizeimeister Friedrich Caspary
•
Pfarrer Karl Wessendorft
Lichter in einer dunklen Zeit
Persönliche Erinnerungen von
Menschen aus Bergen-Enkheim
Wir gedenken der Opfer des Nationalsozialismus
in unserem Stadtteil Bergen-Enkheim durch
Veranstaltungen und Rundgänge.
Als Initiative Stolpersteine gelingt uns die
Zusammenarbeit mit der Evangelischen
Kirchengemeinde Bergen-Enkheim. Pfarrerin
Kathrin Fuchs, die auch Mitglied unserer Initiative
ist, ist es zu verdanken, dass seit 1999 das
jährliche Gedenken an die Pogromnacht hier am
Ort durchgeführt wird.
Die Teilnehmerzahlen bei unseren
Veranstaltungen steigen, im Stadtteil nehmen sich
immer mehr Bewohner dieser Frage an, auch
neue Interessenten an unserer Arbeit wirken bei
uns mit, wollen die Erinnerung an die Opfer der
Gräueltaten und unser aller Verantwortung
aufrechterhalten helfen. Je mehr wir uns mit der
Geschichte beschäftigen, die auch Bergen-
Enkheim nicht verschonte, um so klarer wird uns,
wie nachhaltig sich die NS-Propaganda auf das
alltägliche Leben auswirkte, wie sehr Menschen in
Bedrängnis gerieten, mit dem Strom zu
schwimmen.
Wir, die Nachgeborenen, haben keinen Anlass,
uns über Menschen zu erheben, die verstrickt
waren. Wir wissen nicht, wie wir uns verhalten
hätten. Aber wir können versuchen, unseren
Beitrag dazu zu leisten, dass wir alle
aufmerksamer werden und den Anfängen
wehren, die Wegsehen, Schweigen oder
Mitläufertum mitunter so angezeigt sein
lassen. Die Verbrechen der Nazis hätten ohne
diese immer zahlreicher werdenden Zuschauer
und Mitläufer nie das Ausmaß erreichen und in
den Völkermord und die Vernichtung ausarten
können, die unsere Gegenwart noch immer
belasten.
Wir freuen uns sehr darüber, dass bei unseren
Veranstaltungen Teilnehmer auf uns zukommen
und Beispiele dafür liefern,
•
dass nicht alle „mitgemacht“ haben,
•
dass es in ihrer eigenen Familie und
Nachbarschaft Menschen gab, die
Zivilcourage bewiesen oder sich sogar
widersetzten.
•
Es gab sogar einen Polizeibeamten, der
sich - etwa in der Pogromnacht im November
1938 – erfolgreich gegen die
Zerstörungswut, den exzessiven Diebstahl
und die menschenunwürdige Behandlung
von Bewohnern unseres Stadtteils wandte,
•
oder einen anderen, der die längst
angeordnete Verhaftung einer Jüdin
solange hinausschob, bis es nicht mehr
möglich war.
•
Es gab Nachbarn, die Angebote machten,
Verfolgte zu verstecken,
•
und andere, die dem seit April 1933
verhängten Aufruf: „Kauft nicht bei Juden“
nicht Folge leisteten.
•
Es gab ein Restaurant, das jüdische
Einwohner von Bergen mit Speisen
versorgte, sozusagen „bei Nacht und Nebel“,
wenn es nicht so gut beobachtet werden
konnte.
•
Die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft ging
in einem Falle sogar soweit, dass einer
jüdischen Geschäftsfrau und deren Tochter in
der Pogromnacht Schutz im eigenem Haus
gewährt wurde gegen lautstark mit
Sanktionen drohende SA-Männer.
Die Bereitschaft der Bergen-Enkheimer uns ihre
Zeitzeugnisse anzuvertrauen und an ihrer
Veröffentlichung mitzuwirken, ist für unsere
Erinnerungsarbeit sehr wertvoll. Wir wissen dies
um so mehr zu schätzen, als die engen
nachbarschaftlichen Kontakte, die seit
Generationen bestehen, die Entscheidung nicht
leicht machen: Öffne ich mich und spreche über
die Belastungen der Schreckensherrschaft - auch
für meine Eltern und Großeltern - und nehme die
Schmerzen auf mich, die das noch heute mit sich
bringt, oder schweige ich lieber und setze mich
nicht aus?
So unterschiedlich wie unsere Quellen sind auch
die einzelnen Beiträge, sowohl in ihrer Gestaltung
als auch mit Blick auf das Maß und die Art der
Bewältigung der dargelegten Ereignisse:
Zeitzeugenaussagen, Erinnerungen, Bilder,
Interviews und schriftlich vorbereitete
Ausführungen. Die Leser mögen sich selbst ein
Bild über diese Vielfalt machen
Wer, wenn nicht wir, an die diese Bitten
herangetragen wurden, Zeitzeugnisse zu
veröffentlichen, die auch „Lichter in einer
dunklen Zeit“ bekunden, kann diesem Anliegen
mit dem folgenden Beitrag unter diesem Titel
entsprechen?
Für die Redaktion, der auch Karla Nowak,
Pfarrerin Kathrin Fuchs und Martina Georgi
angehörten,
Edith Haase
Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim
im Januar 2021
Senni und Adolf Blum in glücklichen Tagen
.
Wir können uns sehr gut vorstellen, dass es
Menschen in unserem Stadtteil gibt, die in ihrer
Familie oder auch im Freundes- und
Bekanntenkreis von ähnlichen Lichtblicken in dieser
grausamen Zeit erfahren oder berichet bekommen
haben. Diese Mitbürger wollen wir dazu ermutigen,
sich mit ihren Geschichten, Erinnerungen,
Erzählungen oder auch nur Episoden an uns zu
wenden. Wir würden gerne dazu beitragen, sie
einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim
Frankfurt am Main
Lichter in einer dunklen Zeit: Senni Blum