Zeitzeugen - Ein Interview von Edith Haase
2. Mutiges Einschreiten der Familien R. und H. gegen
SA-Ausschreitungen bei den Novemberpogromen
Interview mit Frau A.R. und Frau I.H.
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Vorbemerkung: Frau R. und ihre Freundin, Frau H., wollen zwar
über die damalige Zeit berichten, aber nicht namentlich erwähnt
werden, weil sie gute Kontakte zu den früheren Bekannten und
Nachbarn hatten und haben. Sie wissen, dass es Menschen gibt,
denen die Ereignisse der Nazi-Zeit noch immer Schuldgefühle
verursachen und die sie nicht an den Pranger stellen wollen. Sie
selbst haben diese Leute nur als freundliche, rechtschaffene
Menschen erlebt, die in ihrer Selbstwahrnehmung dazu
gezwungen wurden, dem Regime Folge zu leisten: So gab es
Nachbarn, die Frau H.'s Eltern als nicht regimetreu denunziert
haben, die aber nach dem Krieg von eben diesen Menschen
entlastet werden wollten. In der Diskussion um dieses Anliegen
ist im Volksmund von Persilscheinen die Rede. Persil war und ist
ein Waschmittel.
Frau H.'s Vater war aber zu einer solchen Entlastung ehemaliger
Parteigänger nicht bereit.
Frau R. kam im Anschluss an eine Gedenkveranstaltung unserer
hiesigen Initiative zur Erinnerung an die Opfer der Pogrome im
November 1938 auf mich zu und versprach mir ein Foto aus dem
Jahr 1931. Dort sind die folgenden Personen abgebildet:
Foto aus dem Privatbesitz von Frau R.; der Initiative Stolpersteine Bergen-
Enkheim zur Enkheim zur Veröffentlichung überlassen
Legende zum Foto:
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Der jüdische Metzger Meier Seligmann (in der Mitte vor der Tür)
vor seinem Laden in der damaligen Hauptstraße 87 (heute
Marktstraße) mit der Großmutter, Mutter und Tante von Frau R.
(oben im Fenster) sowie auch ihrem Großvater (vor der Tür,
rechts neben M. Seligmann).
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Die Familie der Großmutter wohnte bis zur Pogromnacht bei
Meier Seligmann, danach auf der gegenüberliegenden
Straßenseite - Ein Bild guter Nachbarschaft. Der Vermieter und
Metzger Meier Seligmann schenkte seinen Mietern regelmäßig
den Sonntagsbraten. -
Im folgenden sind Ausschnitte aus dem Gespräch abgedruckt,
das wir am 7.3.2016 führten.
Frage an Frau R.: Nach unserer Gedenkveranstaltung zu
den Novemberpogromen hast Du mir von einem Bild
erzählt, das Du mir zeigen wolltest. Warum hast Du das
getan?
Frau R.: Ich bin im Jahre 1951 geboren und habe die NS-Zeit nicht
selbst erlebt. Als Deutsche habe ich trotzdem heute immer noch
Schuldgefühle, weil ich mich immer wieder frage: Wie konnte das
passieren? Wie würde ich mich heute in solchen Situationen
verhalten? Und deshalb sage ich mir: Wir müssen das aufarbeiten,
dass unsere jungen Leute wissen, was da war, und nicht sagen: Jetzt
hört doch endlich auf mit der Vergangenheit. Ich frage mich auch:
Tun wir nicht schon wieder etwas Ähnliches, indem wir wegschauen
bei dem, was in Syrien passiert und auf der ganzen Welt? Ich mache
mir ganz große Gedanken darüber. Uns geht es ja gut, das Unrecht
geschieht ganz weit weg. Und deswegen dürfen wir unsere
Vergangenheit nie vergessen.
Was ich zu sagen habe, weiß ich aus Erzählungen, Erinnerungen
meiner Großeltern und Eltern. Es ist ja früher nie darüber gesprochen
worden.
Frage an Frau R.: Du hast doch etwas von Deiner Mutti
erzählt. Wie hast Du das erfahren, wenn da nicht
darüber gesprochen wurde?
Frau R.: Später, im Alter, wenn wir uns über frühere Zeiten, den
Krieg usw. unterhalten haben. So weiß ich z.B. nicht, warum meine
Großeltern von ihrer Wohnung bei dem Metzger Meier Seligmann
von der Marktstraße 87 auf die gegenüberliegende Seite Marktstraße
102 gezogen sind. Ich weiß, dass sie in der Pogromnacht im Hause
Meier Seligmanns gewohnt haben und dass in deren Wohnung und
Laden ziemlich gewütet worden sein musste. Meine Mutti hat erzählt,
dass die SA-Leute in die Wohnung der Familie Seligmann
eingedrungen sind, dort furchtbar gewütet und versucht haben, den
Kohleofen im Wohnzimmer umzuwerfen. Das konnte nur dadurch
verhindert werden, dass die Mutter meines Opas gesagt hat: „Hier
wohnen auch Arier, die können Sie doch nicht auch in Gefahr
bringen.“ Das hat der Zerstörungswut der SA-Leute Einhalt geboten.
In diesem Zusammenhang weiß ich noch, dass meine Mutti keine
BDM-Uniform hatte, weil mein Opa nicht in der Partei war.
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Anmerkung: BDM steht für Bund Deutscher Mädel, den
weiblichen Zweig der Hitler-Jugend.
Wenn Klassenbilder gemacht wurden, forderte der Lehrer meine
Mutter auf nach hinten zu gehen. Er sprach sie dabei mit dem
Nachnamen an und sagte zu ihr: „Du, (...), geh mal schön nach
hinten, dass man Dich nicht so sieht.“
Frage an Frau R.: In welcher Weise hat Deine Mutter Dir
das erzählt?
Frau R.: Sie war traurig und fühlte sich benachteiligt. Das hat sie mir
erst im hohen Alter erzählt.
Meine Mutti hat gesagt, dass sie oft nach Hause gegangen sei und
geweint und ihrem Vater vorgeworfen habe: „Warum bist Du denn
nicht in der Partei? Was tust Du uns an?“
Ich weiß bis heute nicht, was mein Großvater für Gründe hatte und
ob er aus Überzeugung oder aus finanziellen Gründen gehandelt hat.
Es ist für mich wahrscheinlicher, dass er aus politischen Gründen
nicht in die NSDAP eintrat, denn seine Eltern kamen aus dem
Riederwald, einer traditionell eher linken Wohngegend. Sie wohnten
über dem Torbogen über der Schäfflestraße.
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Anmerkung: Der Riederwald ist eine traditionelle
Arbeitersiedlung, in der Weimarer Republik eine Hochburg von
Sozialdemokraten und Kommunisten. In diesem Viertel wurde
auch in der NS-Zeit aktiver Widerstand gegen das Regime
geleistet. Es ist also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen, dass der Großvater aus politischer Überzeugung
gehandelt hat.
Frau R. fährt fort:
Die Mädchen, die im BDM waren, sind in der Schule vorgezogen
worden, besonders wenn ihr Vater einen hohen Posten in der Partei
innehatte.
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Anmerkung: Die neue Wohnung, in die die Großmutter von Frau
R. mit ihren beiden Töchtern zog, lag auf der
gegenüberliegenden Straßenseite. Die Vermieterin und ihr
(mittlerweile im Krieg gefallener) Mann waren günstig an das
Haus des jüdischen Ehepaars Hirsch gekommen. Die Witwe
erwies sich ihren Mietern gegenüber als hilfsbereit und
mitmenschlich. Sie lebte gut mit ihnen zusammen und teilte mit
ihnen Lebensmittel, die sie von ihren Eltern bekommen hatte.
Frage: Nach dem Novemberpogrom sollen sich ja auch
Bewohner von Bergen deutlich von ihren jüdischen
Mitbürgern abgesetzt haben.
Frau H.: Es gab durchaus Leute, für die die mittlerweile verfolgten
Mitbürger einfach nicht existierten.
Aber wir blieben von solchen Ausgrenzungen verschont, obwohl
mein Vater nicht in der Partei war, weil er ständig auf Einsätzen in
anderen Gegenden Deutschlands war, wo Schäden – z.B. durch
Bombenangriffe - entstanden waren, die er mit beheben sollte. Ich
weiß nur, dass meine Mutter mit meiner Schwester und mir keinen
Zugang zum Bunker im Höhenweg hatte, angeblich, weil sie wegen
ihrer beiden kleinen Kinder nicht mithelfen konnte, den Bunker zu
bauen. Meine Schwester wurde 1942 und ich 1940 geboren.
Es handelt sich um einen aus Lehm gebauten mit Holzpfosten
abgestützten Unterstand, der auf dem Höhenweg oberhalb der
Kreuzung mit dem Fritz-Schubert-Ring stand.
Frage an Frau R., die sich noch einmal auf die Fotografie bezieht,
die sie mir anvertraut hat:
Wann könnte das Bild aufgenommen sein?
Frau R.: Meine Mutti ist 1925 geboren, meine Tante, die ein ca.
einjähriges Baby ist, 1930, also könnte das Bild aus dem Jahr 1931
stammen. Deshalb vermute ich, dass das die Hertha war.
Die Tochter von Meier Seligmann hieß Hertha. Sie konnte mit ihrem
späteren Mann Manfred Katz auswandern.
Sie war 6 oder 8 Jahre älter als meine Mutti und hat in Offenbach in
einem Schmuckladen gearbeitet. Mir ging es hauptsächlich um
dieses Schild Metzgerei Meier Seligmann.
Frau R. erzählt, dass sie bei einem Vortrag über die Berger
Geschäftswelt die Erwähnung der Metzgerei Seligmann vermisst hat.
Es ließ sich in unserem Gespräch aufklären, dass der Vortrag erst
mit der Darstellung der 50er Jahre begann, einer Zeit, zu der die
Metzgerei von Meier Seligmann längst nicht mehr bestand. Sie fährt
fort:
Mein Bruder kann sich auch daran erinnern, dass hinten im Hof ein
Schlachthaus war.
Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass sich die Besitzer
mehrerer koscherer Berger Metzgereien zum Schächten
zusammengetan hatten: Es handelte sich dabei noch um Moritz
Hahn in der Gangstraße 2 und Gustav Hahn in der Marktstraße 40.
Frau R. kommt noch einmal auf die Frage zurück, die sie sehr
beschäftigt, und sagt:
Ich weiß heute nur, dass, aber nicht, warum meine Großeltern nach
der Pogromnacht auf die gegenüberliegende Seite der Marktstraße
umgezogen sind. Ich weiß nur, dass meine Großeltern und meine
Mutti diese Nacht in dem Haus Meier Seligmann und die Kriegsjahre
im Haus Nr. 102 verbracht haben. Sie müssen in dieser Zeit
irgendwann umgezogen sein.
Frage an Frau H., die ehemalige Nachbarin der Familie
Hirsch in der Marktstraße 102:
Waren da Friedrich Nathan Hirsch und seine Frau Rosa schon aus
ihrem Haus Marktstraße 102 gezogen?
Gemäß unseren Nachforschungen ist das Ehepaar Hirsch
spätestens im September 1940 aus dem Haus in Marktstraße 102 in
die Weberstraße 7 in das Frankfurter Nordend umgezogen.
Frau H.: In der Pogromnacht waren die Hirschs noch in ihrem Haus.
Sie hatten ihr Büro und die Wohnräume zum Hof hin. Herr Hirsch
hatte einen Handel mit medizinischen Instrumenten. Die Instrumente
waren in der Scheune in Holzkisten eingepackt. Wir haben noch
heute zwei Reagenzgläser aus diesen Beständen. Die SA-Leute
hatten die Fenster schon geöffnet und allerlei Dinge wie die
Schreibmaschine und Möbel auf den Hof geworfen, alles auf einen
Haufen, weil sie diese Gegenstände dort anzünden wollten. Mein
Vater hat sich mit ihnen angelegt und am Anzünden gehindert.
Schließlich wäre sein Haus ja auch in Mitleidenschaft gezogen
worden. Die SA-Leute wollten ihn wegen seines Protests mitnehmen,
wozu es dann aber doch nicht gekommen ist. Mein Vater kannte
diese Leute, weil sie bei Hirschs am Schabbat gearbeitet hatten.
Frau R.: Das war bei meinem Opa genauso, auch er kannte die
Leute, die im Laden und in der Wohnung von Meier Seligmann
gewütet hatten. Meine Oma kam ja aus dem Nachbarhaus der
Seligmanns.
Frau H.: Ein Herr Zimmer aus unserem Haus, der mit seiner Frau ein
kleines Lebensmittelgeschäft im Nordend betrieb, hat mit meinen
Eltern immer nachts der Familie Hirsch Essen über den Zaun
gereicht.
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Mein Kommentar: In unserer Veröffentlichung geht es ja um
solche Hilfestellungen und Akte der Mitmenschlichkeit. Es geht
uns auch um den Mut derer, die sich dem Anpassungsdruck nicht
unterworfen haben, z. B. um Eure Eltern. Vielen Dank Euch
beiden für diese wichtigen Einblicke.
Das Interview führte Edith Haase am 3.7.2016.
> Weiterlesen:
3. August Schneider erzählt uns aus seiner Kindheit ...
Es gab aber auch Lichter in einer
dunklen Zeit
Diese Lichter zeugen von Menschlichkeit
inmitten einer unfassbaren Barbarei. Es sind
Berger Bürger, die den Mut hatten, gegen den
Strom zu schwimmen, ihre jüdischen Mitbürger
nicht im Stich zu lassen und im Verborgenen
Nachbarschaftshilfe zu leisten.
Quelle: https://www.spreadshirt.de/kontakt-C1336,
bearbeitet von Ewald Wirth
Einige Beispiele:
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Der Maurermeister Wilhelm Grimm aus
der Barbarossastraße bot seiner
Nachbarin, der Jüdin Senni Katz, seinen
Keller als Versteck an.
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Die Familien R. und H. setzten sich bei
den Novemberpogromen für ihre jüdischen
Nachbarn ein.
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Familie Schneider: Großvater und Vater
halfen Verfolgten und Gedemütigten in der
Pogromnacht.
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Polizeimeister Friedrich Caspary
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Pfarrer Karl Wessendorft
Emma Greim, die Großmutter von Frau R. im sog. Landjahr
auf dem Hof von Bauer Still auf der Marktstraße
Foto aus dem Privatbesitz von Frau R.;
(der Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim zur
Veröffentlichung überlassen).
Lichter in einer dunklen Zeit: Familien R. und H.
Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim
Frankfurt am Main