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  [5. Karl Wessendorft]
  Seite 3/3
  Anlässlich der Goldenen Konfirmation 1988 schrieb Heinz Hinkel 
  in seiner Festschrift über die „Problematik der Konfirmation im NS-
  Staat“: 
  •
  
  „Nach dem Tode meines Vaters im Januar 1950 hatte ich ein 
  langes Abendgespräch mit dem Pfarrer und habe erstmals 
  Einzelheiten über seine Situation erfahren: die Überwachung 
  seiner ganzen Familie durch die Gestapo, Kontrolle des 
  amtlichen Schriftverkehrs, die Bestellung zu Verhören, die vielen 
  kleinen Schikanen wie z.B. das Zugipsen der Kirchenschlösser 
  am Sonntagmorgen und anderes mehr.“ (3) In diesem kurzen 
  Zitat wird deutlich, wie sehr das NS-Regime in sein Leben und 
  das seiner Familie drohend eingriff.
  Auch nach dem Krieg blieb Pfarrer Wessendorft das Schicksal der 
  ehemaligen jüdischen Gemeinde ein wichtiges Anliegen.  Seine 
  akribische Recherche über die Schicksale der Berger Juden 
  veröffentlichte er 1960 und 1961 als Beilagen zur Bergen-
  Enkheimer Zeitung (4).  Auf Grund seiner Forschungsergebnisse 
  über die jüdischen Familien und ihre Schicksale konnte die Initiative 
  Stolpersteine 33 Stolpersteine für die Deportierten in Bergen 
  verlegen. 
  Auch 1962 bei der Enthüllung der Gedenktafel für unsere 
  zerstörte Synagoge, deren Initiator er war, redete er Klartext:
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  „Es ist darum so schandbar schwer, sich und andere an diese 
  dunklen Stunden zu erinnern, weil das nicht nur ein Stück 
  vergangener Geschichte, Heimatgeschichte und Weltgeschichte 
  ist. Es ist viel mehr: Es ist ein Stück unserer eigenen 
  Lebensgeschichte bis auf diesen Tag. Da ist nichts zu 
  verbergen. In diesen Jahren ist Menschen von Fleisch und Blut, 
  auch solchen, die unsere Mitbürger waren, unsere Nachbarn, 
  unsere Arbeitskollegen, unsere Kriegskameraden, unsagbares 
  und untragbares Böses an Leib und Leben angetan worden, 
  nicht nur an Hab und Gut, sondern an Blut und Ehre. Das alles 
  ist so unerträglich schlimm, daß selbst viele Opfer jener Zeit, die 
  nun in anderen Ländern und Erdteilen wohnen, ´nicht an das 
  Schreckliche erinnert werden mögen, wie sie schreiben, auch 
  nichts davon wissen wollen´. Das hilft aber nicht; es gilt, der 
  Wahrheit standzuhalten. Flucht vor der Wahrheit gehört zum 
  Allerschlimmsten. Das hindert uns an Erkenntnis und Einsicht 
  und an der Umkehr und Abkehr von falschen Wegen.
  Wir können auch nicht unsere Schuld auf andere abwälzen: Sie 
  sind ja auch nicht besser als wir. Denn was uns angeht, müssen 
  wir jetzt hören und erkennen: Wir meinten besser zu sein als die 
  anderen! Wir meinten ehrlich sagen zu können: Ein Deutscher 
  tut so etwas nicht! Aber nun, wir stehen auch nicht besser da als 
  die anderen. Es gibt kein Vergessen, keine Selbstrechtfertigung, 
  keine Selbstentschuldigung.
  Aber auch Klagen und Anklagen helfen nicht weiter (…)“ (5)
  Ausdruck seiner bemerkenswerten Glaubwürdigkeit ist es, dass er 
  sich selbst in die Reihe der Schuldigen einordnet: „unsere Schuld“.
  •
  
  „´Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.´ (6)  
  Diese Worte stehen auf der rechten Seite der Gedenktafel. Auf 
  der anderen Seite steht das Prophetenwort ´Mein Haus soll ein 
  Bethaus heißen allen Völkern´ (7). Die letzte Wahrheit über das 
  Judentum ist nicht vom Politischen, noch vom Sozialen, noch 
  vom materialistischen Rassedenken, noch von irgendwelchen 
  Ideen her zu ahnen, sondern nur von seinem Glauben her, aus 
  seinem Auftrag, seiner Berufung, seiner Erwählung: Israel als 
  der Zeuge der Gottesherrschaft über die ganze Welt und zu 
  allen Zeiten. Das Geheimnis Israels ist darin das gleiche wie das 
  Geheimnis der christlichen Kirche. Darum auch das Volk Gottes 
  nach dem Alten Testament wie das Volk Gottes nach dem 
  Neuen Testament auf dieser Welt in der Fremdlingschaft. Darum 
  auch für beide gleicher Trost und Hilfe. Darum auch die 
  Möglichkeit zur Versöhnung und Vergebung, zu Abkehr von 
  dem, was nicht bleibt und Umkehr zum Leben. Schalom 
  alechem! Friede sei mit euch! Gottes Friede für alle, 
  Anwesenden, für Israel, für unsere Gemeinde und alle ihre 
  Glieder, für unser Volk, für alle Völker, für alle Welt!“ (8)   
  Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? – Der Berger Pfarrer, der 
  sich zu der Zeit, als die jüdischen Menschen verfolgt, erniedrigt, 
  deportiert und ermordet wurden, mutig für sie einsetze und deshalb 
  selber verhaftet und verhört wurde.
  Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? Der Mahner, der maßgeblich 
  zur Erinnerung der nationalsozialistischen Greueltaten mit all ihren 
  Schrecken und all ihrem Leid bei unseren vergessenen Nachbarn 
  beigetragen hat.
  Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? Der Christ, der den 
  Gedanken von Versöhnung und Vergebung zwischen Juden und 
  Christen schon so früh formulierte und dazu beitrug, dass dieser 
  Versöhnungsgedanke als Grundlage neuer Beziehung von Juden 
  und Christen verstanden wurde.
  Pfarrerin Kathrin Fuchs, Bergen-Enkheim
 
 
 
 
 
 
     
  Querverweis:
  LINK zu weiteren Auszügen aus der Festschrift
  Querverweis:
  LINK zu einem Gemeindebrief mit einer 
  persönlichen Bitte des Pfarrers um Mithilfe bei 
  seiner Recherche
  Querverweis:
  LINK zu einem Pressebericht über die Enthüllung 
  der Gedenktafel
        Gedenktafel für die Synagoge
        Foto: 2020 Ewald Wirth
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   1 Das betrachten wir geradezu als Auftrag unserer Initiative 
  Stolpersteine.
  2 Katechismus der reformierten Kirche, 1563 in Heidelberg; 
  bis heute orientieren sich weltweit reformierte Protestanten 
  an den 129 Fragen und Antworten zu den zentralen Fragen 
  des Lebens. Ein Auszug ist im Evangelischen Gesangbuch 
  unter EG 807 zu finden.
  3 Konfirmation 1938. Betrachtungen und Erinnerungen von 
  Heinz Hinkel, S. 9
  4 Aus der Heimat. Unsere letzten jüdischen Mitbürger. Ein 
  vernachlässigtes Stück Heimatgeschichte. Beide Beilagen 
  zur BEZ 1960/61 sind kostenlos im Heimatmuseum Bergen 
  erhältlich.
  5 Sonderabdruck aus der Bergen-Enkheimer Zeitung vom 
  11. 05.1962
  6 Psalm 121,4
  7 Jesaja 56,7
  8 Sonderabdruck aus der Bergen-Enkheimer Zeitung vom 
  11.05.1962BEZ
                                       
  
 
 
 
 
  
  
 
 
  Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim 
                                              Frankfurt am Main
 
 
  Lichter in einer dunklen Zeit: Karl Wessendorft (3 von 3)