Zeitzeuge - Ein Bericht von Kathrin Fuchs
[5. Karl Wessendorft]
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Anlässlich der Goldenen Konfirmation 1988 schrieb Heinz Hinkel
in seiner Festschrift über die „Problematik der Konfirmation im NS-
Staat“:
•
„Nach dem Tode meines Vaters im Januar 1950 hatte ich ein
langes Abendgespräch mit dem Pfarrer und habe erstmals
Einzelheiten über seine Situation erfahren: die Überwachung
seiner ganzen Familie durch die Gestapo, Kontrolle des
amtlichen Schriftverkehrs, die Bestellung zu Verhören, die vielen
kleinen Schikanen wie z.B. das Zugipsen der Kirchenschlösser
am Sonntagmorgen und anderes mehr.“ (3) In diesem kurzen
Zitat wird deutlich, wie sehr das NS-Regime in sein Leben und
das seiner Familie drohend eingriff.
Auch nach dem Krieg blieb Pfarrer Wessendorft das Schicksal der
ehemaligen jüdischen Gemeinde ein wichtiges Anliegen. Seine
akribische Recherche über die Schicksale der Berger Juden
veröffentlichte er 1960 und 1961 als Beilagen zur Bergen-
Enkheimer Zeitung (4). Auf Grund seiner Forschungsergebnisse
über die jüdischen Familien und ihre Schicksale konnte die Initiative
Stolpersteine 33 Stolpersteine für die Deportierten in Bergen
verlegen.
Auch 1962 bei der Enthüllung der Gedenktafel für unsere
zerstörte Synagoge, deren Initiator er war, redete er Klartext:
•
„Es ist darum so schandbar schwer, sich und andere an diese
dunklen Stunden zu erinnern, weil das nicht nur ein Stück
vergangener Geschichte, Heimatgeschichte und Weltgeschichte
ist. Es ist viel mehr: Es ist ein Stück unserer eigenen
Lebensgeschichte bis auf diesen Tag. Da ist nichts zu
verbergen. In diesen Jahren ist Menschen von Fleisch und Blut,
auch solchen, die unsere Mitbürger waren, unsere Nachbarn,
unsere Arbeitskollegen, unsere Kriegskameraden, unsagbares
und untragbares Böses an Leib und Leben angetan worden,
nicht nur an Hab und Gut, sondern an Blut und Ehre. Das alles
ist so unerträglich schlimm, daß selbst viele Opfer jener Zeit, die
nun in anderen Ländern und Erdteilen wohnen, ´nicht an das
Schreckliche erinnert werden mögen, wie sie schreiben, auch
nichts davon wissen wollen´. Das hilft aber nicht; es gilt, der
Wahrheit standzuhalten. Flucht vor der Wahrheit gehört zum
Allerschlimmsten. Das hindert uns an Erkenntnis und Einsicht
und an der Umkehr und Abkehr von falschen Wegen.
Wir können auch nicht unsere Schuld auf andere abwälzen: Sie
sind ja auch nicht besser als wir. Denn was uns angeht, müssen
wir jetzt hören und erkennen: Wir meinten besser zu sein als die
anderen! Wir meinten ehrlich sagen zu können: Ein Deutscher
tut so etwas nicht! Aber nun, wir stehen auch nicht besser da als
die anderen. Es gibt kein Vergessen, keine Selbstrechtfertigung,
keine Selbstentschuldigung.
Aber auch Klagen und Anklagen helfen nicht weiter (…)“ (5)
Ausdruck seiner bemerkenswerten Glaubwürdigkeit ist es, dass er
sich selbst in die Reihe der Schuldigen einordnet: „unsere Schuld“.
•
„´Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.´ (6)
Diese Worte stehen auf der rechten Seite der Gedenktafel. Auf
der anderen Seite steht das Prophetenwort ´Mein Haus soll ein
Bethaus heißen allen Völkern´ (7). Die letzte Wahrheit über das
Judentum ist nicht vom Politischen, noch vom Sozialen, noch
vom materialistischen Rassedenken, noch von irgendwelchen
Ideen her zu ahnen, sondern nur von seinem Glauben her, aus
seinem Auftrag, seiner Berufung, seiner Erwählung: Israel als
der Zeuge der Gottesherrschaft über die ganze Welt und zu
allen Zeiten. Das Geheimnis Israels ist darin das gleiche wie das
Geheimnis der christlichen Kirche. Darum auch das Volk Gottes
nach dem Alten Testament wie das Volk Gottes nach dem
Neuen Testament auf dieser Welt in der Fremdlingschaft. Darum
auch für beide gleicher Trost und Hilfe. Darum auch die
Möglichkeit zur Versöhnung und Vergebung, zu Abkehr von
dem, was nicht bleibt und Umkehr zum Leben. Schalom
alechem! Friede sei mit euch! Gottes Friede für alle,
Anwesenden, für Israel, für unsere Gemeinde und alle ihre
Glieder, für unser Volk, für alle Völker, für alle Welt!“ (8)
Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? – Der Berger Pfarrer, der
sich zu der Zeit, als die jüdischen Menschen verfolgt, erniedrigt,
deportiert und ermordet wurden, mutig für sie einsetze und deshalb
selber verhaftet und verhört wurde.
Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? Der Mahner, der maßgeblich
zur Erinnerung der nationalsozialistischen Greueltaten mit all ihren
Schrecken und all ihrem Leid bei unseren vergessenen Nachbarn
beigetragen hat.
Wer war Pfarrer Karl Wessendorft? Der Christ, der den
Gedanken von Versöhnung und Vergebung zwischen Juden und
Christen schon so früh formulierte und dazu beitrug, dass dieser
Versöhnungsgedanke als Grundlage neuer Beziehung von Juden
und Christen verstanden wurde.
Pfarrerin Kathrin Fuchs, Bergen-Enkheim
Querverweis:
LINK zu weiteren Auszügen aus der Festschrift
Querverweis:
LINK zu einem Gemeindebrief mit einer
persönlichen Bitte des Pfarrers um Mithilfe bei
seiner Recherche
Querverweis:
LINK zu einem Pressebericht über die Enthüllung
der Gedenktafel
Gedenktafel für die Synagoge
Foto: 2020 Ewald Wirth
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1 Das betrachten wir geradezu als Auftrag unserer Initiative
Stolpersteine.
2 Katechismus der reformierten Kirche, 1563 in Heidelberg;
bis heute orientieren sich weltweit reformierte Protestanten
an den 129 Fragen und Antworten zu den zentralen Fragen
des Lebens. Ein Auszug ist im Evangelischen Gesangbuch
unter EG 807 zu finden.
3 Konfirmation 1938. Betrachtungen und Erinnerungen von
Heinz Hinkel, S. 9
4 Aus der Heimat. Unsere letzten jüdischen Mitbürger. Ein
vernachlässigtes Stück Heimatgeschichte. Beide Beilagen
zur BEZ 1960/61 sind kostenlos im Heimatmuseum Bergen
erhältlich.
5 Sonderabdruck aus der Bergen-Enkheimer Zeitung vom
11. 05.1962
6 Psalm 121,4
7 Jesaja 56,7
8 Sonderabdruck aus der Bergen-Enkheimer Zeitung vom
11.05.1962BEZ
Initiative Stolpersteine Bergen-Enkheim
Frankfurt am Main
Lichter in einer dunklen Zeit: Karl Wessendorft (3 von 3)
Gedenken an Pfarrer Wessendorft am 02.05.2023
Zum 100. Jahrestags des Beginns von Karl Wessendorft als Pfarrer in
Bergen, am 01.05.1923, lud die Evangelische Kirchengemeinde zu einer
kleinen Gedenkfeier am Dienstag, 02.05.2023, ein.
Pfarrerin Kathrin Fuchs erinnerte an den Pfarrer.
Ein Urenkel von Wessendorft enthüllte eine
Gedenktafel. Die Kantorei unter der Leitung von
Kantor Wolfgang Runkel begleitete das Gedenken
musikalisch.
In diesem Zusammenhang hat die Evangelische
Kirchengemeinde in Absprache mit Wessendorfts
Nachkommen seinen Grabstein auf dem Berger
Friedhof renovieren lassen.
Kathrin Fuchs: „Jetzt ist wieder gut zu lesen:
DEI IN MANIBUS IN MANUS DEI – Aus Gottes
Händen in Gottes Hand.“ (s. oben)
Links: ehem. Pfarrhaus, Am Michlersbrunnen 17, in dem Karl
Wessendorft lebte. Fotos: Ewald Wirth